Entscheidungen in unsicheren Zeiten: Das Sehen-Urteilen-Handeln-Framework
Was wie ein Relikt aus vergangenen Tagen klingt, entpuppt sich als überraschend aktuelle Antwort auf die Herausforderungen moderner Arbeits- und Lebenswelten. Es handelt sich um ein altes, doch wirkungsvolles Framework, um in unsicheren Zeiten kluge Entscheidungen treffen zu können. Gerade, wenn sich alles ständig verändert, braucht es stabile Denkmodelle.
Eingekeilt zwischen komplexen Herausforderungen, Digitalisierung und wachsendem Leistungsdruck drohen viele, den Überblick zu verlieren. Orientierung bietet ein altes Konzept: das Framework „Sehen – Urteilen – Handeln“ (frz.: voir-juger-agir; engl.: see-judge-act).
So schlicht es auf den ersten Blick aussieht, entfaltet es eine erstaunliche Tiefe für die Selbstvergewisserung mit Blick auf Lebensentwürfe, berufliche Entscheidungen und selbst alltägliche Prioritätensetzungen.
Wer hat es erfunden?
Dieses zeitloses Orientierungsinstrument entwickelte der in Belgien geborene Joseph Cardijn (1882-1967). Cardijn war Priester und später Kardinal der römischen Kirche. Sein Augenmerk galt der Arbeiterschaft jener Zeit. In Belgien, England und Deutschland beobachtete er die prekären Zustände sogenannter „Akkordarbeiter“ in der Textilindustrie, die weitgehend ohne sozialen Schutz arbeiteten. Er organisierte erste gewerkschaftliche Bewegungen, um soziale Ungleichheiten aufzugreifen und gemeinschaftlich zu verändern zum Besseren. Denn statt nur zu klagen war er der Meinung, es sei wichtiger Werkzeuge an die Hand zu geben, um die Lebensrealität selbstständig zu reflektieren und zu verändern.
Um diese Ungleichheiten anzugehen, etablierte er seine See-Judge-Act-Framework. Es ging ihm dabei darum, auf transparente und wirksame Weise diese wahrzunehmen, ein Bewusstsein für die Lebenswirklichkeit zu schaffen, diese zu reflektieren und daraus Gestaltungsspielräume zu entwickeln. Diese Gestaltungsspielräume orientieren sich auch heute an Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit – aktueller, denn je.
Papst Johannes XXIII. hat dieses Modell in ein wichtiges Rundschreiben (Enzyklika Mater et Magistra, 1961, 236) aufgenommen. Dort wird der Dreischritt zusammengefasst:
„Zunächst muß man den wahren Sachverhalt überhaupt richtig sehen; dann muß man diesen Sachverhalt anhand dieser Grundsätze gewissenhaft bewerten; schließlich muß man feststellen, was man tun kann und muß, um die überlieferten Formen nach Ort und Zeit anzuwenden. Diese drei Schritte lassen sich in den drei Worten ausdrücken: sehen, urteilen, handeln.“
Auch Papst Franziskus folgte in seiner Enzyklika Laudato Si`, Über die Sorge für das gemeinsame Haus (Kompass für eine menschen- und umweltgerechte Entwicklungsagenda) methodisch weitgehend dem Dreischritt „Sehen–Urteilen–Handeln“.
Die Systematik dahinter
Cardijn setzt auf eine weitzurückreichende philosophisch-theologische Tradition auf. Als entscheidende Frage gilt seit Sokrates († 399 v. Chr.) die Frage τι εστί-ti esti: Was ist etwas (programmatisch Platon, Menon 72a).
Ebenso entscheidend ist die Frage für Aristoteles (†322 v. Chr.): griech. τὸ τίἦν εἶναι- to ti en einai; lat. quod quid erat esse: Was heißt es, eine Sache (Realität) zu sein? (Aristoteles, Metaphysik, VII, 6, 1031a15).
Die Antwort heute lautet: Die Welt ist alles, was der Fall ist – Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten, so Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung,1918, 1&2.
Des Weiteren dient Cardijn die Tugendlehre des Thomas von Aquin (†1274) zur Näherbestimmung des Dreischritts. Klugheit gilt für Thomas als Vernunft im Handeln. Und Vernunft, insoweit sie untersuchend argumentiert, erweist Dinge als glaubwürdig, die vorher zweifelhaft waren (vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae, Teil II-II, Frage 47, Artikel 1–2; Summa theologiae, Teil I-II, Frage 14, Artikel 4).
Das entspricht im Framework dem Sehen im Cardijn’schen Sinn.
Darauf folgt das Urteilen, also die bewusste Abwägung und Bewertung der gewonnenen Erkenntnisse. Hier entscheidet sich, was gut, gerecht oder angemessen ist.
Schließlich folgt das Handeln, das Thomas als den wichtigsten Akt der Klugheit bezeichnet, weil es die Theorie in die Praxis überführt.
Cardijn knüpft an eine philosophisch-theologische Tradition an. Er überträgt seine Dreigliederung schließlich auf gegenwärtiges, gesellschaftliches Handeln – verständlich und nachvollziehbar.
Die einzelnen Teilbereiche des Dreischritts „Sehen – Urteilen – Handeln“ gehen fließend ineinander über. Aus dem individuellen Handeln erwächst beständig Erfahrung, die jeweils für das zukünftige Handeln leitend sein wird.
Konkretisierungen
I. Der erste Schritt im „Sehen – Urteilen – Handeln“-Modell von Joseph Cardijn, das bewusste Wahrnehmen der Wirklichkeit, erscheint auf den ersten Blick einfach: Man schaut hin, beobachtet, hört zu – und erkennt, was los ist. Doch genau an diesem Punkt können bereits erhebliche Probleme auftreten, denn unsere Wahrnehmung ist weder neutral noch vollständig objektiv. Jedes Denken beginnt mit einem Vorverständnis: mit Überzeugungen, Erfahrungen und Sichtweisen, die wir mitbringen, oft ohne es zu merken. Dieses persönliche Gepäck beeinflusst nicht nur unsere Schlussfolgerungen, sondern auch, welche Fragen wir überhaupt stellen.
So schreibt schon Thomas von Aquin:
„In den Dingen aber, die der Mensch wirkt, ist viele Ungewißheit; denn derartiges Wirken richtet sich immer auf einzelne Verhältnisse und Einzeldinge, die auf Grund ihrer Wandelbarkeit ungewiß sind …In zweifelhaften und ungewissen Dingen aber spricht die Vernunft kein Urteil aus ohne vorhergehende Untersuchung oder Nachforschung; und deshalb ist die Nachforschung der Vernunft vor dem Urteile … notwendig“, Thomas von Aquin, Sth. I-II, 14,1.
Das bedeutet: Was wir sehen – oder glauben zu sehen – ist oft nicht die ganze Realität.
Das macht deutlich, dass das „Sehen“ im Sinne Cardijns mehr ist als bloßes Beobachten. Es erfordert Offenheit, Selbstkritik und die Bereitschaft, sich auf andere Sichtweisen einzulassen. Erst durch bewusstes und reflektiertes Wahrnehmen – im Dialog mit anderen und im Abgleich mit der Realität – kann ein klares und ehrliches Bild entstehen. Nur so wird der zweite Schritt, das „Urteilen“, wirklich tragfähig.
Insgesamt zeigt sich: Der erste Schritt im Modell ist entscheidend – aber auch anfällig. Wer wirklich sehen will, muss lernen, die eigenen Filter zu erkennen und zu hinterfragen. Das ist herausfordernd, aber notwendig, wenn es um kluges, zielführendes Handeln in einer komplexen Welt geht.
Konkret mit Blick auf Lebensentwürfe, berufliche Entscheidungen und selbst alltägliche Prioritätensetzungen heißt das: Wie wirken sich Arbeitsbedingungen, Zeitdruck oder Unsicherheit auf mich, meine Familie und mein Umfeld aus? Wie ist das Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben, zwischen Leistung und Erholung, zwischen Selbstverwirklichung und Existenzsicherung?
II. Der zweite Schritt im Modell „Sehen – Urteilen – Handeln“ – das Urteilen – ist zentral für eine verantwortungsvolle und ethisch fundierte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Doch auch dieser Schritt ist nicht frei von Herausforderungen und Gefahren.
Denn das Bild, das man sich über eine Situation macht, ist nie rein sachlich, sondern immer auch von persönlichen Werten, Meinungen, Lebenserfahrungen und gesellschaftlichen Normen geprägt. Urteilen heißt nicht nur bewerten, sondern auch deuten – und dabei kann viel schiefgehen, wenn wichtige Voraussetzungen fehlen.
Eine der größten Gefahren im Urteilsschritt ist die Voreiligkeit: Wenn Menschen schnell und ohne ausreichende Informationen Schlüsse ziehen, kann das zu Fehlurteilen führen. Oft werden dabei komplexe Sachverhalte vereinfacht, Schuldige gesucht oder Dinge auf den Weg gebracht, ohne die Hintergründe zu verstehen.
Hinzu kommt die Gefahr der einseitigen Perspektive: Wer nur aus dem eigenen Standpunkt heraus urteilt, übersieht leicht andere Einschätzungen, Lebensrealitäten oder Zusammenhänge. Auch gesellschaftliche Stereotype oder ideologische Überzeugungen können das Urteilen verzerren. Wenn das Weltbild feststeht, bevor man sich mit einem Thema auseinandersetzt, wird das Urteil eher zur Bestätigung eigener Annahmen als zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der Wahrheit.
Damit das Urteilen konstruktiv ist, braucht es bestimmte Voraussetzungen: kritisches Denken, die Bereitschaft zur Selbstreflexion und der Zugang zu verlässlichen Informationen. Nicht zuletzt braucht gutes Urteilen Zeit – Zeit zum Nachdenken, zum Diskutieren, zum Informieren. In einer Welt, die oft schnelle Reaktionen verlangt, ist diese Langsamkeit ein Akt der Verantwortung.
Konkret mit Blick auf Lebensentwürfe, berufliche Entscheidungen und selbst alltägliche Prioritätensetzungen heißt das: Hier kommt zum Tragen, was einem wirklich wichtig ist: Stehen Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit im Mittelpunkt – oder dominieren rein wirtschaftliche Interessen?
III. „Handeln“ – bildet den Abschluss des Dreischritts. Nach dem genauen Hinsehen (sehen) und der wertgebundenen Reflexion (urteilen) geht es nun darum, aktiv zu werden: eine konkrete Veränderung herbeizuführen, eine Position zu beziehen oder Verantwortung zu übernehmen.
Doch gerade dieser Schritt birgt Herausforderungen. Denn Handeln bedeutet nicht nur, etwas zu tun, sondern auch, Konsequenzen zu tragen. Wer handelt, greift in Systeme ein, verändert Abläufe, setzt vielleicht auch Widerstände in Gang. Deshalb ist es entscheidend, sich der eigenen Motive und Grenzen bewusst zu sein. Ist mein Handeln gut durchdacht – oder nur eine spontane Reaktion?
Dient es lediglich der eigenen Beruhigung? Wird es der Komplexität der Situation kontextsensibel gerecht? Zudem braucht verantwortungsvolles Handeln bestimmte Voraussetzungen: Mut, Entschlossenheit und die Bereitschaft, für das eigene Tun einzustehen. Ebenso wichtig ist Selbstreflexion – also die Fähigkeit, das eigene Handeln später noch einmal kritisch zu prüfen und, wenn nötig, neu auszurichten. Handeln im Sinne dieses Modells ist kein einmaliger Akt, sondern Teil eines kontinuierlichen Prozesses, der sich immer wieder an neuen Realitäten messen muss.
Die Gefahr besteht darin, diesen Schritt zu früh oder zu unreflektiert zu gehen – etwa aus Aktionismus, Opportunismus, Gruppendruck oder dem Wunsch nach schneller Veränderung. Dann kann Handlung zwar sichtbar, aber nicht sinnvoll sein.
Konkret mit Blick auf Lebensentwürfe, berufliche Entscheidungen und selbst alltägliche Prioritätensetzungen heißt das: Das kann bedeuten, bewusst Grenzen zu setzen, mehr Raum für Familie, Gesundheit oder Ehrenamt zu schaffen, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen oder im Team eine neue Kultur des Miteinanders zu fördern.
Relevanz
Im ersten Schritt, dem „Sehen“, geht es darum, die konkrete Situation und ihre Auswirkungen wahrzunehmen: Dieses genaue Hinschauen verhindert, dass Probleme verdrängt oder als „normal“ hingenommen werden.
Im zweiten Schritt, dem „Urteilen“, werden die beobachteten Zustände mit persönlichen Werten, sozialen Normen oder lebensdienlichen Prinzipien abgeglichen. In dieser Phase wird kritisch hinterfragt, ob das eigene Tun mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmt und ob Strukturen fair und menschenwürdig gestaltet sind.
Der dritte Schritt, das „Handeln“, fordert schließlich dazu auf, Konsequenzen aus dieser Analyse zu ziehen – sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Rahmen. Es geht um aktives Gestalten statt passives Aushalten.
Das von Joseph Cardijn entwickelte Framework „Sehen – Urteilen – Handeln“ bietet heute eine wertvolle Orientierung. Angesichts von Digitalisierung, Automatisierung, Leistungsdruck und globalem Wettbewerb stehen viele Menschen vor der Herausforderung, ihre Rolle in der Arbeitswelt neu zu definieren und ihre Prioritäten im Leben bewusst zu setzen. Cardijns Methode hilft dabei, diesen Prozess kritisch, strukturiert und werteorientiert zu gestalten.
© Dr. Armin Kutscher, 2025
Literatur:
Cardijn, Josef, Laien im Apostolat, Butzon & Bercker Verlag, Kevelaer 1964.
Krockauer R., Weber, K. (Hg.), Mehrwert Mensch: Zur Aktualität Joseph Kardinal Cardijns, LIT- Verlag, Berlin 2018.
Theobald, Christoph, Zur Theologie der Zeichen der Zeit. Bedeutung und Kriterien heute, in: Peter Hünermann (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Herder Verlag, Freiburg/Br. u. a. 2006, 71–84.
Johannes XXIII., Enzyklika Mater et Magistra, 1961. https://www.vatican.va/content/john-xxiii/de/encyclicals/documents/hf_j-xxiii_enc_15051961_mater.html
Sander, Hans-Joachim, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, in: Hünermann, Peter, Hilberath, Bernd Jochen (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 4, Herder Verlag, Freiburg/Br. 2009, 581–886.
Lienkamp, Andreas, Quellen der Ethik? Zur erkenntnistheoretische Bedeutung der Sozial-wissenschaften für die Soziallehre der Kirche, in: Heimbach-Stein, Marianne, Lienkamp, A., Wiemeyer J., Brennpunkt Sozialethik- Theorien, Aufgaben, Methoden, Herder- Verlag, Freiburg 1995, Seiten 45-68, hier 49.
Heimbach-Steins, Marianne, Sehen - Urteilen - Handeln. Zur Methodik des Konsultationsprozesses, In: StdZ 213 (1995), S. 604-614.
Abb. F. Romey.
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