Durchdrehen oder durchatmen? Gelassenheit als radikale Praxis - Eine Tugend für unsere überhitzte und erschöpfte Zeit.
„Die Dinge, über die du nachdenkst, bestimmen die Qualität deines Geistes; die Seele nimmt die Farbe deiner Gedanken an“, Mark Aurel (121–180 n. Chr.), Selbstbetrachtungen V, 16.*
In einer Welt, die von Krisen, Kriegen, ökologischen Katastrophen und wirtschaftlicher Unsicherheit erschüttert wird – aber auch mit Blick auf den einzelnen Menschen von Arbeitsüberlastung, Dauererreichbarkeit, Erschöpfung und sozialer Entfremdung geprägt ist –, erscheint das Nachdenken über Gelassenheit auf den ersten Blick beinahe weltfremd.
Doch Gelassenheit kann inmitten des Getriebenseins helfen, das Wegweisende zu erkennen, Maß zu halten und handlungsfähig zu bleiben.
Gelassenheit ist nicht Gleichgültigkeit. Gelassenheit ist eine geistige Robustheit, die Unwuchten – welcher Art auch immer – trotzt. Sie ist innere Unabhängigkeit und leiser Widerspruch gegen das Getriebensein: menschlich und innerlich gefestigt bleiben, ohne in Ressentiments, Zynismus und Frust unterzugehen.
Johannes Cassian (†435 n. Chr.), einer der bedeutendsten Vermittler der frühchristlichen monastischen Tradition, thematisiert Gelassenheit unter verwandten Konzepten wie Unerschütterlichkeit (apatheia) und geistlicher Unterscheidung (discretio). Für ihn ist Gelassenheit die wache, stets angefochtene Freiheit zu unterscheiden:
„Die Tugend der Unterscheidung ist es, die uns zwischen gutem Eifer und schädlichem Übermaß zu unterscheiden lehrt. […] Ohne sie kann keine Tugend auf Dauer bestehen“, Johannes Cassian, Collationes II, 4.**
Für Cassian beinhaltet Gelassenheit Maßhalten, Geduld und das Streben nach Mitte – eine Kunst des Lebens, die zwischen den Extremen von Überforderung und Nachlässigkeit austariert ist. Auf den Arbeitsalltag angewendet: keine übermäßige Identifikation mit Arbeit oder Erfolg etc., sondern die Fähigkeit, sich selbst im Auge zu behalten und zu unterscheiden, was lebensdienlich ist und was nicht.
Zu erkennen und zu unterscheiden (discretio), was zuträglich ist oder nicht, ist der Gelassenheit vorangestellt. In einer überreizten (Arbeits-) Welt wird diese Fähigkeit zur Unterscheidung zu einer stillen, aber tragenden Kraft. Sie klärt und befreit mit Blick auf das, was man sein lassen kann.
Loslassen ist nicht Bequemlichkeit, sondern eine existenzielle Praxis, um in einer überdrehten Welt standzuhalten – Dinge bewusst sein lassen, um auf Kurs zu bleiben.
Auch Meister Eckhart (†1328), der große Mystiker des Mittelalters, versteht unter Gelassenheit nicht ein entspanntes oder passives Loslassen, sondern eine geistige Haltung, die er als „Gelassen-Haben“ bezeichnet – ein bewusstes Seinlassen.
Gelassenheit bedeutet nicht Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit. Sie eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer radikalen inneren Freiheit, die aus bewusstem Loslassen erwächst. Gelassenheit heißt, sich nicht im ständigen Tun und Anhäufen zu verlieren, sondern Raum zu schaffen für das, was sich zeigen will – ohne Zwang und Druck. Es geht darum, offen zu werden für das, was ist: Unfertiges zuzulassen, auf das Wirken anderer zu vertrauen und sich innerlich zu befreien. Gelassenheit bedeutet also nicht, dass einem alles gleichgültig ist oder man die Dinge schleifen lässt. Vielmehr eröffnet sie die Möglichkeit einer radikalen Freiheit, die dem Loslassen erwächst. So entsteht eine kraftvolle Balance zwischen Aktivität und Offenheit, die das Leben bereichert und nicht einengt.
Was soll ich sein lassen? Diese Frage verlangt nach Unterscheidung.
In der spirituellen Praxis des Ignatius von Loyola (†1556) ist Unterscheidung zentral: Was ist wirklich wesentlich? Was führt in die Freiheit – und was treibt aus Angst, Voreingenommenheit oder Eile in die falsche Richtung? Nicht (allein) persönliche Wünsche, Ängste oder eitle Anerkennung sollen unsere Entscheidungen bestimmen, sondern das, was in einer konkreten Situation am meisten lebensdienlich ist. Diese hinterfragende Haltung ermöglicht es, sich von einengenden Mustern zu lösen und offen für das Bedeutsame zu bleiben.
Die Freiheit von unguten Anhänglichkeiten schützt davor, aus Angst Entscheidungen zu treffen, die bloß falsche Sicherheit garantieren; aus Ego-Interesse, das nach Prestige, Macht oder Selbstbestätigung strebt; oder aus Eile, die aus Ungeduld oder einem getriebenen Aktivismus heraus entsteht. Es geht darum, sich nicht gefangen nehmen zu lassen von eigenen Vorlieben, Perfektionismus, inneren Zwängen, Optimierungsfantasien und Ängsten oder gesellschaftlichen Erwartungen. Indifferenz schafft Abstand – ein Moment der Unterbrechung, in dem das Ich nicht reagieren muss, sondern beobachten darf – und zu sich selbst kommt.
Ignatianische Indifferenz ist kein Weg zu Gleichgültigkeit oder Desinteresse, kein Mangel an Engagement, sondern eine Haltung innerer Freiheit gegenüber den Dingen der Welt, um offen zu bleiben für das, was dem größeren Ziel dient: Mensch sein – oder: dem zu folgen, was sinnvoll, bedeutsam und lebensdienlich ist.
In einer Zeit permanenter Reizüberflutung und Selbstverwertung ist das ein Akt der Selbstfürsorge.
Die Lehre von der Epikie (griech. epieikeia) bringt eine weitere Dimension in dieses Bild: Sie zeigt, wie sich innere Freiheit und Unterscheidungskraft praktisch in Handlung umsetzen lassen. Epikie beschreibt die Fähigkeit, Regeln, Muster, Methoden nicht sklavisch anzuwenden, sondern im Licht ihres Sinns und Kontextes zu interpretieren.
Epikie gilt seit Aristoteles (†322 v. Chr.) als Tugend, die gerade dort zur Geltung kommt, wo unser Wahrnehmen und Bewerten einen besonderen Fall nicht vollständig erfassen kann. Es geht nicht darum, Regeln zu umgehen – sondern darum, sie ihrem tieferen Ziel gemäß anzuwenden. Epikie, recht verstanden, ist also keine Ausnahme von der Regel, sondern eine Form, der Regel treu zu bleiben, gerade wenn sie im Einzelfall zu starr wäre. Sie verbindet Gelassenheit mit Verantwortung und Prinzipientreue mit Flexibilität.
Menschen wissen, dass kein Regelwerk alle Lebens- und Arbeitssituationen vorhersehen kann – und sie vertrauen auf ihre Urteilskraft.
Epikie wird so zur praktischen Schwester der Indifferenz: Sie macht aus innerer Freiheit gelebte Handlungskunst.
Byung-Chul Han (*1959) einer der scharfsinnigsten Diagnostiker unserer Gegenwart, beschreibt in seinem Werk Müdigkeitsgesellschaft, wie sich die Logiken des Leistungsdenkens tief im Menschen festbeißen. Moderne Arbeitskulturen sind geprägt von Selbstoptimierung, ständiger Erreichbarkeit und innerem Leistungsdruck – und nicht selten zunehmender innerer Leere und organisatorischem Stumpfsinn. Menschen werden zu Unternehmern ihrer selbst – ständig gefordert, ständig dabei, Effizienz zu steigern, Potenziale auszuschöpfen, zu verbessern.
Die Imperative „Sei schneller, besser, effizienter!“ – machen das Subjekt zur Projektionsfläche quälender Optimierungsfantasien und Selbstausbeutungsschädigung. Der Mensch, so Han, ist ein sich selbst ausbeutendes Projekt – ständig optimierend, stets verfügbar, nie genug.
Der „flexible Mensch, der jede Gestalt, jede Rolle, jede Funktion anzunehmen vermag…verwirklicht sich zu Tode. Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung fallen hier in eins“, Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, S. 71 u. 70.
In dieser Welt wird Freiheit zur Last, und Selbstverwirklichung zur Quelle von Erschöpfung.
Gelassenheit erscheint in diesem Horizont nicht mehr als Luxus oder selbst wieder optimieren wollende Alltagsstrategie, sondern als Notwehr. Gegen die permanente Selbstüberforderung setzt Han eine Rückbesinnung auf das Nicht-Tun, die Passivität, das Lassen-Können.
Eine Gesellschaft, die verlernt hat, einfach zu sein, stellt alles unter das Leitmotiv der Leistung und Verrechnung („was bringt mir das“).
„Die Gesellschaft der Authentizität ist eine Performancegesellschaft. Jeder performt sich. Jeder produziert sich. Jeder huldigt dem Kult, dem Gottesdienst des selbst, in dem man der Priester seiner selbst ist“, Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Symbole, Seite 25.
Han stellt Gelassenheit als einen Akt des Widerstands diesem Prozess der Kommodifizierung entgegen, bei dem Dinge, Beziehungen oder menschliche Eigenschaften so behandelt (verrechnet) werden, als wären sie Produkte, die gekauft, verkauft oder effizient genutzt werden können.
Wenn alles erdrückende Pflicht und Qual ist, wenn alles (Selbst-)Optimierung und Druck wird, wenn selbst das Private verrechnet wird, dann wird Indifferenz – verstanden als Abstand und als Kunst des Unterscheidens hin zur Gelassenheit – zu einer Überlebensform.
Han fordert zurecht ein Denken, das nicht rechnet; ein Tun, das nichts erreichen muss. Was Han vorschlägt, ist nicht Romantik, sondern eine radikale Verschiebung des Denkens: Wer gelassen ist, muss nicht immer „Ja“ sagen – aber auch nicht reflexhaft „Nein“. Er oder sie steht in einem anderen Verhältnis zur überhitzten Welt: empfangend, fragend, lauschend, antwortend. Das ist keine Flucht aus der Realität, sondern eine andere Art, in ihr zu stehen und zu „überleben“.
Es ist möglich, die eigene Würde, Freiheit und die Gesundheit zu bewahren, indem man sich (gelegentlich) entzieht und eine Haltung der „Indifferenz“ und des „Seinlassens“ einnimmt. Durch Gelassenheit wird es möglich, sich nicht gänzlich mit den Ansprüchen von außen zu identifizieren. Stattdessen lässt sich ein Weg einschlagen, der das Wohltuende und Lebensdienliche in den Mittelpunkt stellt.
Das nenne ich Lebensweg.
Dr. Armin Kutscher 5/2025
Zitate:
*Res quibus cogitas qualitatem mentis tuae determinant; anima colorem cogitationum tuarum accipit. Ὁ τοῦ νοὸς χρὼς τοιαύτη, οἷαι αἱ διανοήσεις αἱ καθ᾽ ἡμέραν βαφὴ γὰρ ὑπὸ διανοήσεων.“
** Discretio autem virtutum omnium est mater, custos et moderatrix, et sine ea nulla virtus potest perpetua consistere.
Lit.
Abb. pixabay.com - gemeinfei
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