Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer - „Die da oben – wir da unten“: Gesellschaftliche Krisen und die Rückkehr des Nationalismus
Lagenbestimmung
Demokratie, Marktwirtschaft, und die liberale, plurale Gesellschaft sind weltweit Anfeindung und Widerspruch ausgesetzt. Populistische und rechtspopulistische Kräfte drängen in Deutschland gegen die Wälle der uns selbstverständlichen demokratischen Grundordnung.
Einem nicht geringen Teil der Bevölkerung behagt das nicht. Das Unbehagen speist sich aus verschiedenen Quellen: zu komplexe und häufige Veränderungen; zu viele Flüchtlinge und Asylsuchende; zu viel Zuwanderung; Nicht-Vorkommen in der Politik; das Gefühl, nicht ernstgenommen werden; überfordernde neue Lebensentwürfe; durch Medien manipuliert zu werden; wenig Sicherheit auf den Straßen; die Sorge, in eine Abwärtsspirale zu geraten; uvm.
„Wenn die Behaglichkeit einer breit abgesicherten Mittelklasse ins Wanken gerät, beginnt es an den unteren Rändern der Gesellschaft zu brodeln, weil die bislang noch vorhandene Aufstiegsperspektive definitiv zu verschwinden droht“, Lesch, Seite 201.[1]
Dieses Unbehagen lässt Menschen sich in populistischen Parteien, Vereinen und Bewegungen zusammenfinden, die vorgeben, sich zu kümmern. Sie bieten in komplexen Lagen einfache und mittleidlose Lösungen an. Versprochen werden Meeresstille und glückliche Fahrt![2]
Doch so still und glücklich ist das Angebot nicht: offene und berechnende Tabubrüche sind an der Tagesordnung, Präsens in sozialen Medien mit falschen und vergifteten Inhalten, Aufrufe zu demokratiegefährdenen Aktionen etc.
Zweiwertige Logiken und ihre dualistischen Ausformungen[3] gehören dabei zum Geschäftsprogramm. Wie ein Ostinato stampfen die Parolen daher: „Die da Oben - Wir da Unten“; „Wir hier und Die da“; „Wir hier – Europa da“.
„Die da“, das kann Vieles sein. Der Bogen spannt sich von Europa, Multikulti, Klimaschutz, Bürokratie hin zu Muslimen, Zuwanderung und Asyl, Juden, Sinti und Roma, GSD (Gender and Sexual Diversity) LGBTIQ etc.).
„Wir“, das sind die „Guten“, die „Wissenden“, die Licht ins Dunkel bringen. „Wir“, das sind die Schafe – „Die da“ sind die Böcke.[4]
Die Konjunktur dieses „Wir hier – Europa da“ und die darin mitschwingende Hinwendung zu Nationalismen zeigt, dass in gesellschaftlichen Krisen das Heil (noch immer – oder wieder?) in säkularisierten religiösen Eschatologien[5] gesucht wird, in denen auserwählte Völker glorifiziert und Herrschaftsansprüche angemeldet werden.[6]
„Die Vorstellung einer nationalen deutschen Schicksalsgemeinschaft, die von »außen« oder »innen« gefährdet und bedroht werde spiegelt sich… in einem Sozialdarwinismus… (indem) die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen seien“, Zick/Mokros, Seite 70.[7]
Diese Denkwege und Haltungen unterlaufen nicht nur vernunftgeleitete Standards; sie sind gefährlich demokratiegefährdend. Denn Hinwendung zu Nationalismen geht Hand in Hand mit der Entwertung politischer „Gegner“. Sie werden medial diskreditiert, dämonisiert und als „Antichristen“ oder schlimmer apostrophiert. Damit sind jene Voraussetzungen geschaffen, die die physische Auslöschung des Anderen bereits in der Fantasie durchspielen lässt.
Anmerkungen:
[1] Lesch, Walter, Ambivalenzen im Verhältnis von Populismus und Christentum – Kontroversen und theologische Klärungsversuche, in: Fleck, Marina, Hirschmüller, Tobias, Hoffmann, Thomas (Hg.), POPULISMUS – Kontroversen und Perspektiven. Ein wissenschaftliches Gesprächsangebot, AVM Verlag, München 2020, Seiten 187-205, hier Seite 201. Nachtwey, Oliver, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Suhrkamp Verlag, 7. Auflage Berlin 2017, Seite 126ff. Auch: Reckwitz, Andreas, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
[2] Die Gedichte Meeresstille und Glückliche Fahrt stammen von J. W. v. Goethe. Vertont wurden beide von L. van Beethoven (Kantate für Chor und Orchester, op. 112) und von F. Mendelssohn Bartholdy (Konzert-Ouvertüre, op. 27).
[3] Die Bezüge zu Manichäismus und Gnosis sind kaum zu übersehen. Manichäismus: gnostische Weltreligion von Westeuropa bis China verbreitet. Sie geht zurück auf den Perser Mani 216–276/277 n.Chr.). Strenger Dualismus zwischen Gott und Welt, Licht und Finsternis, Auserwählten und Verworfenen. Vgl .Brumlik, Micha, Die Gnostiker: Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen, Fischer Verlag, Frankfurt a. Main, 1995. Markschies, Christoph, Die Gnosis, C.H. Beck Wissen, München, 4. Auflage 2018.
[4] Vgl. Matthäusevangelium 25 ff: „Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken…. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist… Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!“ - Schafe und Böcke (Sündenböcke) sind ein uraltes Bild in altorientalischen Mythologien und in der Bibel für die Gerechten und Guten (2. Sam 24, 17; Ps 77, 21; 80, 2; 95, 7; 100, 3; Jes 53, 7; Jer 11, 19; Ez 34, 5 ff.; Matth 10, 16.) bzw. die Bösen (Leviticus 16, 10.21 ff.; Ez 34, 17; Dan 8, 4 ff.).
[5] Das griechische Adjektiv ἔσχατος / éschatos bedeutet sowohl örtlich als auch zeitlich „letzter“. Eschatologie (Aussprache: Eschatologie) ist die Rede von den letzten Dingen (τὰ ἔσχατα / tá éschata = die letzten Dinge), meist im kosmologischen Sinne: die Ereignisse, die am Ende der Zeiten als Heil oder Gericht eintreten werden, Wetz, Christian, Eschatologie (Neues Testament), Deutsche Bibelgesellschaft, https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/eschatologie-nt
[6] Ley, Michael, Graf Wilfried, Zivilisationspolitik: Zur Theorie einer Welt-Ökumene, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2005, Seite 8.
[7] Zick, Andreas, Mokros, Nico, Rechtsextreme Einstellungen in der Mitte, in: Zick, Andreas, Küpper, Beate, Mokros, Nico, (Hg.), Die distanzierte Mitte. Rechtextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/2023, herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von v. Franziska Schröter, J.H.W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2023, Seite 70.
Abb. www.pixabay.com - gemeinfei/https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Goya-Capricho-43.jpg
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