Nachsicht statt Urteil - Vom Wert der Unterscheidung in einer urteilsfreudigen Gesellschaft

Ärger und Wut des (moralischen) Urteils über Menschen haftet eine überlegene, selbstgewisse Wertung an. Überlegenheit, besonders moralische, wertet Menschen und setzt sie herab. In Gesellschaften, deren Signaturen Konsum, Leistung, Selbstoptimierung sind, sind Urteile über andere und Vergleiche mit anderen an der Tageordnung. Sich selbst erhöhen, überheben, das eigene Selbstwertgefühl auf diese Weise zu steigern, aber auch der selbstgerechte Blick auf die anderen, sprechen Zufriedenheit und Seelenfrieden zu. 

Wären wir nicht fehlbar. Doch weder wir noch andere sind, einem kritischen Blick ausgesetzt, restlos durchsichtig. Eine Haltung der Bescheidenheit, Großzügigkeit und Nachsicht erkennt an, dass wir uns selbst und anderen gegenüber undurchsichtig und fehleranfällig sind, sowohl in der Wahrnehmung als auch im Handeln. 

Thomas von Aquin (†1274 ) bemerkt dazu: Es „…unterläuft desto eher ein Fehler, je mehr man in den Bereich des Spezifischen absteigt [...] Es kommt also umso häufiger zu Fehlern, je mehr man in die spezifischen Einzelheiten absteigt“. (Summa Theologiae I-IIae q. 94, art. 4). Je unübersichtlicher, komplexer und schwieriger es wird, sich zu orientieren, den „Durchblick“ zu haben, desto häufiger kommt es zu Fehlern, Fehleinschätzungen und Fehlurteilen. 

Unterscheidung 

Die „discretio“ (vom lat. discernere: trennen, sichten, auseinanderlegen, unterscheiden), jene Denkerfordernis, die Lebensvollzüge von Menschen unter dem Aspekt der Ganzheitlichkeit zu unterscheiden und maßvoll zu beurteilen weiß, kann zu einem gerechteren Urteil verhelfen, das zur Nachsicht drängt. Nachsicht als Haltung folgt aus der Fähigkeit, angemessen zu unterscheiden und zu urteilen, was in einer Situation „gerecht“ ist (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, NE VI, 1143a 18-24). 

Die Haltung der „Nach-Sicht“ im Sinne des Nach-Sehens fragt, ob die vorherrschende Meinung, der Trend, die geltende Verhaltensnorm auf den Einzelfall passt und ob diese der Situation und den Menschen (noch) angemessen ist. 

Aristoteles (†322 v.u.Z.) beschreibt Menschen, die dieser „discretio“ fähig sind, als taktvoll-gütige, rücksichtvolle Menschen. Sie sind zu Nachsicht (Epikie) bereit. „Fälle, bei denen Nachsicht angebracht ist, gehören zu dem, was sich gehört … Auch gegenüber allem Menschlichen Nachsicht zu üben, ist gehörig“, Aristoteles, Rhetorik 1374b. 

Für die Suche nach heutiger Lebenskunst und einem verträglichen Miteinander können „discretio“ und Nachsicht - als trainierbare Haltungen - lebensdienliche Wege aufzeigen. 

Die Haltung der „Nach-Sicht“ ist lebensdienlich 

Nachsicht verlangt einiges ab, wie Rupert Lay schreibt, denn Nachsicht, ist …“ Der Mut, andere Menschen mit von „der Allgemeinheit“ abweichenden Verhaltensmustern und Werteinstellungen,…, zu akzeptieren und für deren Recht anders zu sein, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzutreten“, Rupert Lay, Die Macht der Moral, 1990, 23). 

Abb. eigene

Dr. Armin Kutscher 

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