Vielleicht hat der andere ja recht? Vom Meinungskrieg zum Dialog
Verständigung wird möglich, wenn Perspektiven sich begegnen. Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung als Gegenentwurf zum Meinungskampf.
Im privaten Alltag, im gesellschaftlichen Miteinander, im beruflichen Umfeld: Immer sind wir einem Meinungsgewitter ausgesetzt. Nicht selten abstrusen Meinungen. Das ist anstrengend, irritierend und – wenn emotional ungehemmt vorgebracht – destruktiv. Doch sind „bloße“ Meinungen an sich problematisch? Lässt sich ihnen den nichts Konstruktives abgewinnen?
Der Philosoph H. G. Gadamer († 2002) hält viel von Meinungen. Jede Meinung ist Teil eines Verstehens- und Verständigungsprozesses an dessen Zielpunkt Einsicht und Erkenntnisgewinn stehen können.
Gadamer gewinnt Vorurteilen, die im Alltagsgespräch meist negativ belegt sind, etwas Positives ab. So schreibt er:
„Vorurteil heißt also durchaus nicht notwendig falsches Urteil“, (Gadamer, WM 275).
Das Vorurteil als eine Vormeinung, ist zunächst eine wertfreie und unhintergehbare Voraussetzung des Verstehens. (Gadamer WM, 275f.)
Dem Einzelnen bietet die Vormeinung in einem unübersichtlichen Verständigungsprozess eine vorläufige Orientierung. Denn jeder ist ja in diesem Prozess mehr oder minder der „Beirrung durch vor - Meinungen ausgesetzt“, (Gadamer, WM, 272).
Ihre Prüfung und mögliche Bestätigung erfährt die Vormeinung im Gespräch. Im Austausch der zur Debatte stehenden Gegebenheiten – seien es Fakten, Beobachtungen oder Erfahrungen – lässt sich ihr Geltungsanspruch überprüfen. So wird im Dialog mit anderen die Vormeinung auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft. Erweist sich eine Vormeinung am Prüfstein der Gegebenheiten als nicht tragfähig, so gilt sie als hinfällig.
So gesehen erfüllt die Meinung als Vormeinung eine wichtige Funktion im Erkenntnisprozess.
Das Feld von Meinungen, Vorurteilen und Vormeinungen kann sinnvoll im Dialog miteinander hinterfragt und weiterentwickelt werden.
Doch wollen wir die Meinung eines anderen verstehen, können wir nicht unbeirrt an der eigenen Meinung festhalten. Vielmehr kommt es darauf an, die Meinung der anderen in ein Verhältnis zur eigenen Meinung zu setzen (Gadamer, WM, 273).
Das wiederum ermöglicht es, der eigenen Voreingenommenheit sich klar zu werden (Gadamer, WM 274). Die Wahrheit des anderen sich aussprechen lassen eröffnet die Möglichkeit, diese „gegen die eigene Voreingenommenheit auszuspielen“ (Gadamer, WM, 275).
Indem man diese Wahrheit gegen die eigene Voreingenommenheit ‚ausspielt‘, erweitern sich die eigenen Perspektiven. Ein solches Wechselspiel zwischen Eigenem und fremdem ist für jede Form von Erkenntnisgewinnung unverzichtbar. Erst in der kritischen Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Vormeinungen entsteht ein tieferes und differenzierteres Verständnis.
Offenheit ist der Schlüssel zum Verstehen. Diese Offenheit für das andere, verbunden mit der Reflexion der eigenen Vormeinung, löst vom stupiden Zwang, mit Emotionalität Meinungen und Standpunkte ohne Berührungspunkte aufeinanderzuschichten.
Dieser Austausch ist es, der dann zu dem überleitet, was Gadamer Horizontverschmelzung nennt. Ein Horizont umfasst die eigenen Erfahrungen, das Vorverständnis, die kulturellen und historischen Hintergründe einer Person.
Im Dialog treffen diese unterschiedlichen Perspektiven (Horizonte) aufeinander. Im besten Falle ergänzen, erweitern und verschmelzen diese miteinander:
„Verstehen [ist] immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“, (Gadamer, WM, 311).
Es spannt sich ein gemeinsamer, weit gefasster Horizont des Verstehens auf, der über die bloße Addition der Einzelperspektiven hinausgeht.
Ziel ist dann nicht mehr der Sieg des besseren Arguments im Sinne eines argumentativen Überwältigens, sondern ein gemeinsames Bemühen, um Verstehen und Wahrheit.
„Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichausspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“, (Gadamer, WM 384).
Statt stupide Meinungen auf Meinung zu schichten gilt es, einen Prozess des gegenseitigen Verstehens anzugehen, der ein schrittweises Entbergen von Wahrheit ist (Gadamer, GS 10, 80).
Echte Verständigung setzt voraus, die eigene Meinung im Lichte der Argumente des Gegenübers zu reflektieren. Denn ist es nicht so, dass der andere „Recht haben könnte“?*
©Dr. Armin Kutscher 6/2025 (ohne KI)
Literatur
*„Wir müssen endlich wieder lernen, wie man ein richtiges Gespräch führt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe für die Philosophie. Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“, H.-G. Gadamer, Interview mit Thomas Sturm. DER SPIEGEL 8/2000. https://www.spiegel.de/kultur/rituale-sind-wichtig-a-3b542daf-0002-0001-0000-000015737880?context=issue
Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, J.C.B. Mohr Verlag, Tübingen 1960/1990. Gadamer, Hans-Georg, Denken und Dichten bei Heidegger und Hölderlin, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, J.C.B. Mohr Verlag Tübingen 1995, Seiten 76-83.
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